Selbstverteidigung im Rollstuhl

"Mein Herz klopfte bis zum Hals" Mitglieder der Tostedter Multiple-Sklerose-Gruppe lernen Selbstverteidigung im Rollstuhl.
In Rollenspielen werden Situationen so lebensecht nachgestellt, dass einige Teilnehmer nachts nicht in den Schlaf finden.

Von Michael Prellberg / Harburger Anzeigen


Tostedt. Eigentlich bin ich ein ganz netter Typ, findet Jens Mollenhauer. " Aber manchmal kann ich richtig ekelig werden", sagt er und setzt ein widerliches Grinsen auf. Dann nähert er sich der Frau, die fünf Meter weiter im Rollstuhl sitzt, krault ihr im Haar und flüstert ihr ein aufdringliches "Komm Hasi!" ins Ohr, bevor er sich ihr auf den Schoß setzt. Doch die Frau hat ihren ersten Schock schnell verdaut. "Nein!" brüllt sie ganz laut. "Das will ich nicht!" Verdutzt steht Jens Mollenhauer auf und sieht, wie die Frau eilig davonfährt.

Richtig verdutzt ist Jens Mollenhauer natürlich nicht. Schließlich hat er der Frau im Rollstuhl beigebracht, so zu reagieren. Gemeinsam mit Kai Kahmann hat der Selbstverteidigungstrainer den Mitgliedern der Multiple-Sklerose-Gruppe in Tostedt beigebracht, wie sie in Bedrängnis reagieren können. Dabei setzen die beiden Lehrer auf Lernen durch Erfahrung.


 "Wenn wir das nur erzählen, verankert sich dieses Wissen nicht. Aber das muss tief einsickern, damit auch in einer realen Situation richtig reagiert wird", sagt Selbstverteidigungslehrer Kai Kahmann. Also schafft er in Rollenspielen Situationen, die dem Ernstfall zum verwechseln ähnlich sehen.


"Die beiden werden richtig massiv. Das Herz hat mir bis zum Hals geklopft - und ich hatte abends echt Schwierigkeiten, in den Schlaf zu finden", weiß Sylvia Benecke noch von der ersten Übungsstunde. Die Zudringlichkeit und Aggressivität der beiden Lehrer war unverhofft lebensecht.


Für Kahmann und Mollenhauer war  die Arbeit mit Menschen, die am Stock gehen oder im Rollstuhl sitzen, "absolutes Neuland. Sie haben allerdings festgestellt, dass die Opfer von MS mit denselben Problemen zu kämpfen haben wie alle anderen Menschen. Die Angst zu nehmen, ist das Hauptanliegen der Selbstverteidigungslehrer. Am wichtigsten ist dabei keineswegs, mit Kampftechniken gegen etwaige Angreifer geimpft zu werden. Entscheidend ist, es nicht bis zum Angriff kommen zu lassen, dazu zählt z.B.,  selbstbewusst aufzutreten. "Wer wie ein Opfer auftritt, wird schneller zum Opfer” sagt Kahmann.


Erst wenn alle Mittel, dem Konflikt auszuweichen, versagen, kommen Kniffe zum Einsatz, die auch Menschen im Rollstuhl nutzen können, um Angreifer schachmatt zu setzen


Ein Artikel aus den Harburger Anzeigen.